Zum Hauptinhalt springen

{nomultithumb}

Lehmkuhl empfiehlt

graham swift: ein festtag
5plus magazin17 Rezensionen 28
Aus dem Englischen von Susanne Höbel dtv, 144 Seiten, € [D] 18,– | € [A] 18,50

»… Ein Fenster stand offen und er ging durch das sonnendurchströmte Zimmer, sorglos, nackt; er wirkte wie ein Tier. Es war ja sein Zimmer … Und sie war noch nie hier gewesen, würde auch nie wieder herkommen. Auch sie war nackt.« Graham Swift erzählt von den Begebenheiten eines einzigen Sonntagnachmittags im März des Jahres 1924. Jane und Paul sind Nachbarn und kennen sich schon seit sieben Jahren. Dass die beiden ein Liebespaar sind, ahnt niemand. Jane, das Dienstmädchen der Familie Niven, verbringt ihren freien Nachmittag im Bett von Paul Sheringham, dem Sohn der angesehenen Nachbarsfamilie. Ihm steht in Kürze eine standesgemäße Hochzeit bevor. Er ist der einzig verbliebene Erbe, denn dort wie anderswo auch sind viele Söhne im Krieg geblieben. Jane Fairchild ist in einem Waisenhaus aufgewachsen. Es ist also ihr letzter gemeinsamer, geschenkter Tag. Erzählerin ist niemand anders als Jane selbst, mittlerweile neunzigjährig und Schriftstellerin. Sie blickt zurück auf den einen Tag, Dreh- und Wendepunkt ihres Lebens, auf den Schicksalsschlag, der ihr ganzes Leben verändern sollte. Graham Swift lässt für seine Leser auf fast 140 Seiten ein Gesellschaftsporträt des großbürgerlichen englischen Landadels zwischen zwei Kriegen entstehen. Unzeitgemäß, entschleunigend, unprätentiös sowie voller Sinnlichkeit, Erotik und Melancholie. Es ist ein Roman über eine die Klassenschranken überwindende junge, unkonventionelle Frau in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Swift ist ein Autor, der es versteht, in die seelischen Tiefen seiner Figuren zu tauchen: sensibel und empathisch. Es ist ein kleines und dennoch großes Buch, leicht und intensiv zugleich.  
stern k Brigitte Giesler

{nomultithumb}

leila slimani: dann schlaf auch du
5plus magazin17 Rezensionen 29
Aus dem Französischen von Amelie Thoma Luchterhand Verlag, 224 Seiten, € [D] 20,– | € [A] 20,60

Mit dem zweiten Roman den in Frankreich wichtigsten Literaturpreis Prix Goncourt zu gewinnen, ist für eine junge Autorin sensationell. Nur ganz wenigen Frauen vor ihr gelang dieses Meisterstück. Die 35-jährige, in Marokko geborene Leila Slimani hat mit ihrem Roman Chanson douce – der für Luchterhand von Amelie Thoma elegant ins Deutsche übersetzt wurde – ein »human topic« und einen Ton getroffen, der in unserem Nachbarland Frankreich für einen großartigen Erfolg gesorgt hat. Dieses Buch wird auch bei uns große Beachtung finden, ist es doch schmerzhaft mitten in unserer Gesellschaft mit ihren allem Wohlstand zum Trotz täglich virulenten Problemen verortet und heimatlos zugleich: Eine Kinderfrau ermordet die zwei ihr anvertrauten Kleinkinder. Die stets unter Stress stehenden, erfolgreich ihren Berufen nachgehenden Eltern hätten das sich immer dramatischer zuspitzende Verhältnis der Angestellten zu ihren Kindern erkennen können, ja aufhalten müssen. Wann gab es die ersten Anzeichen für die sich anbahnende Katastrophe? Warum konnte sich das Wirken der Nanny Louise wie eine sich anfangs dezent und subtil, dann immer perfider und offensichtlicher ausbreitende Schlingpflanze im Leben der Pariser Familie festsetzen? Warum ist es dem Paar Myriam und Paul nicht gelungen, Louise, die stets gepflegt auftretende 50-Jährige, trotz gemeinsam verbrachten Alltags und Ferienzeiten als leibhaftige Person kennenzulernen? Leila Slimani schafft es, den Leser dem Sog dieser unheilvollen Situation zu überlassen, denn im Gegensatz zu Myriam und Paul lernen wir das Lebensschicksal der sozial abgestürzten und letztlich dem Leben nicht gewachsenen Louise kennen. Ein literarisch beispielloser Text: subtil, gefangen nehmend, abschreckend, zerstörerisch, brutal: Die Protagonisten unserer heutigen Parallelgesellschaften scheitern – ohne dass noch etwas übrig bliebe. Ein heftiges Buch, ein großartiges Buch! 
stern k Mechthild Heinen

{nomultithumb}

mariana leky: was man von hier aus sehen kann
5plus magazin17 Rezensionen 30
Dumont Verlag, 320 Seiten, € [D] 20,– | € [A] 20,60

Kurz und knapp: Ein tolles Buch – man muss sich nur trauen! Man muss sich nur auf eine Schar skurriler, aber immer liebevoll geschildeter Figuren einlassen, die in einem begrenzten Raum agieren, aber dennoch viel vom Leben wissen. Man muss nur mit der alten Selma und allen anderen Dorfbewohnern die enge, aber gleichzeitig auch vogelfreie Idylle in einem Dörfchen im Westerwald aushalten, und man muss nur den charmanten Dialogen der Ich-Erzählerin und ihren so unterschiedlichen Freunden folgen, um ein zutiefst optimistisch gestimmtes, lebensweises Buch zu genießen. Der Tod des Schulfreundes wird der Ich-Erzählerin nur durch die tiefe Liebe zu ihrer Großmutter und die freundschaftlich- vitale Verbundenheit der Dorfbewohner untereinander erträglich, denn eigentlich ist dieses Trauma nicht zu bewältigen. Dass auch nach schwierigen Situationen und langem Warten ganz unverhofft eine große Liebe das Leben noch einmal in neue Bahnen zu lenken weiß, zaubert auch dem ernstesten Leser ein dankbares, herzliches Schmunzeln auf die Lippen, und man ist froh, sich dieser phantasievoll-autonomen, unabhängigen und starken Autorin anvertraut zu haben. Trauen Sie sich, sie wird Sie begeistern! 
stern k Mechthild Heinen

{nomultithumb}

alexandra litwina und anna desnitskaya (illustrationen): in einem alten haus in moskau – ein streifzug durch 100 jahre russische geschichte
5plus magazin17 Rezensionen 31
Aus dem Russischen von Lorenz Hoffmann und Thomas Weiler Gerstenberg Verlag, 60 Seiten, € [D] 24,95 | € [A] 25,70 (ab 12 Jahren)

Pünktlich zum 100. Jahrestag der Oktoberrevolution erscheint im Gerstenberg Verlag ein Buch, das seinesgleichen sucht: hundert Jahre russische Geschichte als Sachbilderbuch für zwölfjährige Jugendliche – eine gewagte Idee! Und ein großes Glück für alle jungen (und älteren!) Leser, dass hier verlegerischer Mut bewiesen und dieser Zwitter aus Geschichts- und Bilderbuch auf den Markt gebracht wurde! Schauplatz des Geschehens – der Titel verrät es bereits – ist ein altes Haus in Moskau. Hier zieht 1902 die Familie Muromzew ein, deren Stammbaum an die Romane Leo Tolstois mit ihren unzähligen Namen und Verwandtschaftsbeziehungen erinnert. Seite um Seite, Generation um Generation verfolgt der Leser das Leben dieser Familie bis zum Jahr 2002. Krieg und Frieden, Fortschritt und Zerstörung, alles, was das 20. Jahrhundert für seine Menschen bereithielt, lässt die Autorin Alexandra Litwina durch die exemplarische Geschichte der Muromzews lebendig werden. Die wunderbar detailreichen Illustrationen gewähren außerdem interessante Einblicke in Kultur und Lebensstil und greifen auch wichtige politische Ereignisse und Personen auf. Dass konsequent aus Kindersicht erzählt wird, verringert die historische Distanz und macht das Erlebte konkret. Ein Buch, das mich – je länger ich darin geblättert und gelesen habe – umso mehr begeistert hat. 
stern k Katharina Lemling

{nomultithumb}

deborah feldman: überbitten
5plus magazin17 Rezensionen 32
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Christian Ruzicska Secession Verlag, 704 Seiten, € [D] 28,– | € [A] 28,80

Überbitten heißt nach Unorthodox Deborah Feldmans zweiter Teil ihrer Lebensaufzeichnungen. »Iberbetn« bezeichnet im Jiddischen eine »unwahrscheinliche Eintracht «, die sich zwischen zwei Menschen mit unüberbrückbaren Differenzen einstellen kann. Sie ist getragen vom Glauben an die Vergebung. Genau das ist es, was sie von Anfang an macht: Brücken bauen mit ihrem Schreiben. Zuerst aus ihrer begrenzten Welt hinaus in jene andere, die sie nicht kannte und in der sie ihren Platz suchte. Im ersten Buch erlebten wir mit, wie sie ihrer jüdischen Gemeinschaft in Brooklyn den Rücken kehrte und sich auf die Suche nach ihren Wurzeln machte. Überbitten schließt da an, wo Unorthodox aufhört, und beschreibt eine junge alleinstehende und alleinerziehende Frau zwischen zwei Welten. Auf ihrer ganz persönlichen Spurensuche nach ihrer jüdischen Identität führt sie der Weg aus der Upper East Side quer durch Europa. Sie beschreibt Stationen wie Ungarn, Paris, bis nach Deutschland, wo sie nach Jahren des Nomadentums endlich in Berlin angekommen scheint. Ausgerechnet in dem Land, das für viele Juden noch immer ein Tabu ist. Sie schildert, wie sie sich durchkämpfte, spricht über ihre Zweifel, erzählt von Not, Überforderung und Enttäuschung. Setzt sich mit Opfer- und Täterdasein auseinander. Bei ihrer Reise verfolgt sie die Lebenslinien ihrer Großmutter als roten Faden, die als Einzige ihrer Familie den Holocaust überlebte und als staatenlos in die USA emigrierte. 700 Seiten sind entstanden. Sie stehen für sieben Jahre Befreiung. Zudem hat die Zahl Sieben im jüdischen Glauben eine »besinder« Bedeutung. Ein lesenswerter Entwicklungsroman im wortwörtlichen Sinne. 
stern k Georg Ottmann

{nomultithumb}

sonja heiss: rimini
5plus magazin17 Rezensionen 33
Kiepenheuer und Witsch, 400 Seiten, € [D] 20,– | € [A] 20,60

Wenn man 40 Jahre verheiratet ist, kann man sich schon mal auf die Nerven gehen. Dumm nur, wenn einer der beiden gern mal seine Ruhe hätte, während sich der andere schon Sorgen macht und Sehnsucht hat, wenn der Gang in den Keller etwas länger dauert. So geht es Alexander und Barbara, Eltern von Masha und Hans, deren Leben ebenfalls nicht problemlos verlaufen. Hans war mal ein sehr erfolgreicher und gut verdienender Anwalt. Seit seine Wutausbrüche, die ihn schon in der Kindheit verfolgt haben, wieder gehäuft auftreten, laufen ihm reihenweise die Mandanten davon, und seine Partnerschaft in der Kanzlei steht auf dem Spiel. Das macht die Beziehung zu seiner sich von ihm emotional und körperlich immer weiter entfernenden Frau nicht gerade leichter. Seine Schwester Masha, der ein geordnetes Familienleben nie wichtig erschien, sehnt sich auf einmal nach Kindern und hört ihre biologische Uhr unaufhaltsam ticken. Druck ist aber sicherlich keine Hilfe bei der Suche nach einem geeigneten Vater ihrer ungeborenen Kinder. Dieses Familiendrama besticht durch einen vor allem deshalb so treffenden und bissigen Humor, da ganz normale Probleme, die sich in wahrscheinlich jeder Familie finden, in überspitzter Form dargestellt werden. Es ist ein riesiger Spaß, dieses Romandebüt von Sonja Heiss zu lesen und der Familie beim Scheitern zuzusehen. 
stern k Georg Ottmann

{nomultithumb}

linda boström knausgard: willkommen in amerika
5plus magazin17 Rezensionen 34
Aus dem Schwedischen von Verena Reichel Schöffling & Co., 144 Seiten, € [D] 18,– | € [A] 18,60

»Alle sollten sehen, dass wir eine heile Familie waren. Wir waren unantastbar, nur weil Mama es so wollte.« Ein treffendes und trauriges Resümee eines gescheiterten Familienlebens, das uns die 11-jährige Erzählerin Ellen mit auf den Weg durch dieses schmale Buch gibt. Linda Boström Knausgard erzählt in ihrem wundervollen lyrischen Tonfall von einer Familie, deren soziale Konstellation bereits lange vor dem Tod des Vaters zerbrochen ist. Die Figuren der Tragödie sind eine Mutter, die ihren lang gehegten Berufswunsch als Schauspielerin auslebt und ihrem ausgeprägten Sinn für Schönheit und Kunst folgt; ein Vater, der daran zerbricht, seiner Frau in die Stadt folgen zu müssen, unter einem mediokren Job leidet und sich, gekränkt und erniedrigt, dem Alkohol und damit auch der häuslichen Gewalt hingibt; ein Sohn, der sich komplett zurückzieht und nur mit seiner ersten Freundin den Alltag erträglich findet, und zuletzt die Ich-Erzählerin, die der in Schieflage geratenen Familiensituation mit komplettem Schweigen begegnet. Kein Wort kommt über ihre Lippen. Vollkommen in sich zurückgezogen lebt sie den Versuch, die eigene Kindheit ohne den Vater in ihren Wünschen Realität werden zu lassen. In ihren Gedanken hat sie schon oft den Tod des Vaters herbeigebetet, und nun, da er tatsächlich nicht mehr da ist, lebt in ihr die Gewissheit, am Tod des Vaters schuldig geworden zu sein. Wunsch und Wille, ein glückliches Leben zu haben, sind gleichzeitig Antrieb und Versagen der Mutter, der Ellen sich in kindlicher Liebe und sehnsüchtiger Harmoniesuche sprachlos zuwendet. Linda Boström Knausgard setzt mit diesem Text eine unvergessliche Geschichte von Täuschung und verletzter Liebe in die Welt, die in ihrer Dramatik den Leser konsequent bis zum Ende des Buches begleitet. 
stern k Mechthild Heinen
BUCHHANDLUNG LEHMKUHL
Leopoldstraße 45     80802 München
Telefon 0 89 - 38 01 50 - 0      Fax 0 89 - 39 69 40
Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein.     www.lehmkuhl.net